Ergänzung
Wolfgang Bunzel: Topographie und räumliche Erschließung durch das Verkehrsmittel Eisenbahn
Das rund 90 km südlich von Berlin gelegene „Ländchen Bärwalde“ befand sich damals wie heute in einer dünn besiedelten und strukturschwachen Region. Trotz der vergleichsweise geringen Entfernung dauerte die Reise von der preußischen Hauptstadt auf das Landgut der Familie mit der Kutsche in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts mindestens zehn Stunden. Als Bettine von Arnim zu Anfang des Jahres 1817 beschloss, nicht zuletzt wegen der Kinder zurück nach Berlin zu ziehen, kam es deshalb zu lang andauernden Trennungsphasen der Eheleute. Da Achim von Arnim in Wiepersdorf blieb, sah man sich nur noch in größeren Abständen.
Besonders in den Zeiten, in denen Bettine von Arnim gezwungen war, allein auf dem Land zu verbringen, häuften sich Klagen über Einsamkeit und Langeweile. So schreibt sie in einem Brief an ihre Schwester Gunda von Savigny: „Das Schreiben vergeht einem hier, wo den ganzen Tag, das ganze Jahr, das ganze liebe lange Leben nichts vorfällt, weswegen man ein Bein oder einen Arm aufheben möchte. Ich kenne kein Geschäft, was den Kopf mehr angreift, als gar nichts tun und nichts erfahren“ (Die Andacht zum Menschenbild. Unbekannte Briefe von Bettine Brentano. Hrsg. von Wilhelm Schellberg und Friedrich Fuchs. Jena 1942, S. 232f.)
Um einigermaßen mobil zu sein, besaß die Familie eine eigene Kutsche. Bettine von Arnim nutzte sie noch 1839 für eine private Reise über Magdeburg und durch den Harz nach Kassel und zurück.
Diese zwar beschaulichen, aber lästigen, weil überaus zeitraubenden Verkehrsverhältnisse änderten sich mit der Einführung der Eisenbahn in Deutschland grundlegend. Binnen weniger Jahre entstanden Verbindungen zwischen fast allen größeren Städten. Dazu gehörte auch die Strecke von Berlin nach Köthen bzw. Halle, die sog. Berlin-Anhaltische Eisenbahn. Der Abschnitt zwischen Berlin und Wittenberg wurde 1841 eingeweiht. Da das „Ländchen Bärwalde“ nur rund 20 km von der Bahnstation Jüterbog entfernt lag, war es plötzlich sehr viel leichter zu erreichen. Es rückte nun verkehrstechnisch deutlich näher an Berlin heran. Die Fahrt mit der Eisenbahn zwischen Berlin und Jüterbog nahm lediglich anderthalb Stunden in Anspruch, so dass sich die gesamte Reise von Tür zu Tür in nur noch drei Stunden bewältigen ließ.
Bettine von Arnim war eine der ersten Autorinnen und vermutlich die einzige Schriftstellerin der Romantik, die die Eisenbahn als neues Verkehrsmittel nutzte. Die Züge nach Wittenberg fuhren in Berlin vom sog. Anhalter Bahnhof ab. Bettine von Arnim ließ sich deshalb zunächst mit einer Lohnkutsche oder der familieneigenen Kutsche bis zum Askanischen Platz bringen. Hier stieg sie in die Eisenbahn ein und fuhr mit Zwischenhalten in Trebbin und Luckenwalde nach Jüterbog. Es gab in den 1840er Jahren jeweils drei Zugverbindungen pro Tag: eine morgens um halb acht, eine mittags um halb zwei und eine am Nachmittag um halb fünf Uhr. Je nach Haltefrequenz waren die Reisenden nach anderthalb oder zweieinhalb Stunden in Jüterbog. Dort wurde Bettine von Arnim entweder mit einer Kutsche oder einem Transportgespann abgeholt und gelangte so nach einer weiteren knappen Stunde auf das Landgut.
Zunächst wohnte sie in der Ritterburg Bärwalde. Nachdem diese 1845 abbrannte, räumte der Pächter des Landguts Wiepersdorf das Herrenhaus. Damit der älteste Sohn Freimund von Arnim dort einziehen konnte, besorgte ihm seine Mutter Möbel und Einrichtungsgegenstände in Berlin, die sie mit der Eisenbahn nach Jüterbog transportieren ließ, wo sie beim „Wirth Stolle“ darauf warteten, entgegen genommen zu werden. Ende Juli 1845 kündigt Bettine von Arnim ihrem Sohn brieflich folgendes an: „Ein großer Theil Moebel werden Morgen Donnerstag auf die Eisenbahn geschickt. Du wirst sie also am Sonnabend können abholen vor der Hand sind es 1 Soffa und 12 Stühle [...] 12 kleine Stühle [...] 1 Schreibtisch mit Komode [...] 1 Waschtisch [...] 1 Nachtconsole [...] 2 Schlafsoffa’s [...] 1 Matratze [...] von Seegras für den Verwalter Nun werde ich Heute Noch wahrscheinlich ein paar Tische dazu kaufen ausserdem noch einen Schreibsecretair für deinen Verwalter woran eine Komode.“ (Bettine von Arnims Briefwechsel mit ihren Söhnen. Hrsg. von Wolfgang Bunzel und Ulrike Landfester. Bd. 1: Du bist mir Vater und Bruder und Sohn. Bettine von Arnims Briefwechsel mit ihrem Sohn Freimund. Göttingen 1999, S. 42)
Das bedeutet, dass ein Großteil des Mobiliars im Wiepersdorfer Herrenhaus in Berlin besorgt und mit der Eisenbahn auf das Landgut transportiert wurde. Mit dem Umzug ihres ältesten Sohnes Freimund von Bärwalde nach Wiepersdorf reiste auch Bettine von Arnim selbst wieder sehr viel häufiger auf das familieneigene Landgut. Die gute Eisenbahnverbindung machte es nun sogar möglich, bei Bedarf den Hin- und Rückweg innerhalb eines Tages zurückzulegen.
Prof. Dr. Wolfgang Bunzel, geb. 1960, leitet die Abteilung Romantik-Forschung im Frankfurter Goethe-Haus/Freies Deutsches Hochstift. Daneben lehrt er Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Goethe-Universität Frankfurt a.M. und ist seit Mitte 2014 einer der beiden Geschäftsführer der Trägergesellschaft Brentano-Haus Oestrich-Winkel gemeinnützige GmbH. Sein Hauptforschungsgebiet ist die Literatur der deutschen Romantik. Seit vielen Jahren gibt er das Internationale Jahrbuch der Bettina-von-Arnim-Gesellschaft mit heraus. 2009 hat er im Freien Deutschen Hochstift anlässlich des 200. Todestages eine Ausstellung über Bettine von Arnim kuratiert, die in Teilen auch in Wiepersdorf zu sehen war. Von ihm stammen außerdem zahlreiche Editionen sowie Buch- und Aufsatzpublikationen zur romantischen Literatur, vor allem zu Bettine von Arnim.