Ergänzung
Wolfgang Bunzel: Gedächtnisort Wiepersdorf
Es war die von Achim von Arnims Großmutter Caroline von Labes testamentarisch bestimmte und bis 1919 bestehende Erb-Regelung, die dafür sorgte, dass Schloss Wiepersdorf über sehr lange Zeit in Familienbesitz blieb. Auch nach deren Aufhebung fühlten sich die Nachkommen weiterhin dem Anwesen verpflichtet, so dass erst die nach dem Zusammenbruch des Dritten Reichs erfolgte Machtübernahme der alliierten Siegermächte des Zweiten Weltkriegs die Eigentumsverhältnisse rabiat veränderte. Ähnlich wie im Fall von Schloss Oberwiederstedt, wo die Familie von Hardenberg von ihrem Stammsitz vertrieben wurde, wurden auch in Wiepersdorf nach Kriegsende die bisherigen Bewohner der jetzigen sowjetischen Besatzungszone enteignet. Anders als in Oberwiederstedt kam es aber rasch zu einer kulturellen Umnutzung des Anwesens. Das Wiepersdorfer Gutshaus wurde schon bald als Dichterheim deklariert, das sich in der Folgezeit zur wohl prominentesten Erholungsstätte für Kulturschaffende in der DDR entwickelte.
Auf diese Weise wurde Wiepersdorf zu einem in dieser Form einzigartigen Gedächtnisort. Da hier zahlreiche Autoren und Autorinnen des zweiten deutschen Staates zeitweise lebten und arbeiteten, blieb das Schloss eine Stätte kultureller Begegnung. Mehr noch: So viele Intellektuelle wie seit den fünfziger Jahren waren in der ganzen Zeit, in der es der Arnim-Familie gehörte, nicht im Haus. Insofern blühte der Ort neu, wenn auch in veränderter Form, wieder auf. Zugleich erwies sich das Anwesen als lebendiger Erinnerungsspeicher. Das Andenken an die früheren Eigentümer war allen Besuchern und Besucherinnen präsent und führte nicht selten zu einer intensiven Auseinandersetzung mit der Vorgeschichte des Gebäudes. Die literarischen Texte, die entweder während des Aufenthalts oder danach unter dem Eindruck dieses historischen Ambientes entstanden, legen davon Zeugnis ab. Der wohl bekannteste Beleg eines solchen über die Zeiten hinweg geführten Dialogs ist Sarah Kirschs Gedichtzyklus Wiepersdorf aus dem Jahr 1977.
In mancherlei Hinsicht trägt diese Gedächtniskultur aber auch widersprüchliche Züge. Die DDR gestattete sog. Kulturschaffenden die atmosphärische Erfahrung vergangener – und nach eigenem Verständnis: überwundener aristokratischer – Zeiten, verzichtete aber darauf, die Vorgeschichte des Schlosses museal aufzubereiten. Anders gesagt: Die Gestalt der Räume und das Mobiliar sprachen zu den Gästen, doch über die Personen, die hier früher gelebt haben, musste man sich andernorts informieren. Besonders grotesk war dieses Missverhältnis in der Anfangszeit, als noch Teile der Arnimschen Bibliothek im Haus waren und man in den Büchern blättern und lesen konnte, die die ehemaligen Bewohner hier zusammengetragen hatten. Diese Form der allenfalls indirekten Auseinandersetzung mit dem kulturellen Erbe war bezeichnend für die ambivalente Haltung der DDR-Kulturpolitik zur – lange Zeit als rückwärtsgewandt und reaktionär geltenden – Romantik. Ein wichtiger Erinnerungsort zweier Romantiker wurde nicht museal genutzt, sondern auf dem Weg der Neu-Nutzung lebendig gehalten. Erst nach der sog. Wende wurden hier eigene Museumsräume eingerichtet, die dem Ehepaar Achim und Bettine von Arnim gewidmet waren und deren Mittelpunkt das ehemalige Atelier ihres Enkels, des Malers Achim von Arnim-Bärwalde, bildet, der dem ursprünglich barocken Gebäude seinen heutigen schlossähnlichen Charakter gab. Der Impuls dazu ging von einer Nachkommin der Familie, nämlich Clara von Arnim, aus, die gemeinsam mit dem Frankfurter Romantikforscher Hartwig Schultz eine Doppel-Dichter-Gedenkstätte begründete und mit Hilfe eines Freundeskreises unterhielt.
Mittlerweile hat Wiepersdorf weitere Stationen der Trägerschaft mit teils unterschiedlichen Nutzungskonzepten durchlaufen. In seinem Selbstverständnis als Künstlerhaus und Begegnungsstätte knüpfte und knüpft es an die eindrucksvolle, zu DDR-Zeiten geschaffene Tradition des Schriftstellererholungsheims an, transformiert sie freilich ins Internationale und Intermediale. Wiepersdorf ist eine Zeitkapsel der besonderen Art: Es bewahrt das Flair einer vergangenen Epoche und sucht daraus Impulse für die Gestaltung der Gegenwart zu gewinnen. Zugleich ist es aber auch die Gedenkstätte eines Ortes und seiner Bewohner über einen Zeitraum von mittlerweile über 200 Jahren.
Prof. Dr. Wolfgang Bunzel, geb. 1960, leitet die Abteilung Romantik-Forschung im Frankfurter Goethe-Haus/Freies Deutsches Hochstift. Daneben lehrt er Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Goethe-Universität Frankfurt a.M. und ist seit Mitte 2014 einer der beiden Geschäftsführer der Trägergesellschaft Brentano-Haus Oestrich-Winkel gemeinnützige GmbH. Sein Hauptforschungsgebiet ist die Literatur der deutschen Romantik. Seit vielen Jahren gibt er das Internationale Jahrbuch der Bettina-von-Arnim-Gesellschaft mit heraus. 2009 hat er im Freien Deutschen Hochstift anlässlich des 200. Todestages eine Ausstellung über Bettine von Arnim kuratiert, die in Teilen auch in Wiepersdorf zu sehen war. Von ihm stammen außerdem zahlreiche Editionen sowie Buch- und Aufsatzpublikationen zur romantischen Literatur, vor allem zu Bettine von Arnim.