Ergänzung
Sonja Hilzinger: Anna Seghers in Wiepersdorf
Anna Seghers schrieb 1969: „Ich habe große Sehnsucht nach Wiepersdorf und war auch schon lange nicht mehr dort. [...] Heute kommt es mir so vor, ich sei nie so sorglos und froh gewesen, beides ohne besonderen Grund, wie in der Zeit, in der wir dort waren und im Wald herumliefen.“ Wiepersdorf wurde nach ihrer Rückkehr aus der mexikanischen Emigration und bis in die Fünfzigerjahre zu einem Rückzugs- und Fluchtort, wo sie ungestört sein und arbeiten konnte. Ihre Remington-Schreibmaschine, ein Symbol für die Solidarität im Exil – Freunde hatten sie ihr bei der Ankunft in Mexiko geschenkt –, begleitete sie auch dorthin. Schloss und Park setzte Anna Seghers in der Erzählung „Das Duell“ ein Denkmal. Die Kurzgeschichten „Die Umsiedlerin“ und „Der Kesselflicker“ aus dem Band „Friedensgeschichten“ verarbeiten wohl auch Eindrücke von dort. Seghers mochte die alten Kastanien und den verwilderten Park, in dem sich auch „seltsame Pflanzen und Bäume“ fanden, die aus Mexiko stammten – und nach Mexiko hatte sie Heimweh.
Als Anna Seghers im April 1947 nach Berlin zurückkehrte, war sie allein. Ihre Mutter und andere Verwandte waren in Konzentrationslagern umgekommen oder in alle Welt verstreut. Ihre Kinder lebten inzwischen in Paris, wo sie aufgewachsen waren. Ihr Mann war in Mexiko geblieben und würde erst 1952 nach Berlin kommen. Einige Gefährten von früher traf Seghers wieder, andere, wie Philipp Schaeffer, waren von den Nazis ermordet worden. „Ich habe das Gefühl, ich bin in eine Eiszeit geraten, so kalt kommt mir alles vor“, schrieb sie 1948.
1933 war Seghers von Berlin aus nach Frankreich emigriert und 1941 von dort nach Mexiko. Während der Exil-Jahre hatte sie trotz größter Schwierigkeiten mehrere Romane veröffentlicht und sich am antifaschistischen Kampf beteiligt. Sie kehrte zurück als erfolgreiche, international anerkannte Schriftstellerin – aber ihre deutschen Landsleute kannten weder sie noch ihre Bücher. Aufgewachsen in einer jüdischen Familie in Mainz, durch Heirat Ungarin, nun mexikanische Staatsbürgerin wünschte sie sich weiterhin ein kosmopolitisches Leben – aber das war unmöglich im Visa- und Behördenkrieg der Nachkriegszeit.
Die ersten Jahre nach der Rückkehr lebte Seghers in einer Pension im Südwesten Berlins, erlebte nach und nach das Erscheinen ihrer im Exil entstandenen Werke wie „Das siebte Kreuz“, „Transit“, „Ausflug der toten Mädchen“ und „Die Toten bleiben jung“ und stellte sich der selbstgewählten Aufgabe, mit ihren Büchern und Reden „Lehrer zu sein für ein ganzes Volk“. Bezugspunkt ihrer Erzählungen war und blieb der Faschismus. Und worüber sie in den DDR-Jahren als Parteimitglied und Kulturfunktionärin öffentlich schwieg, dazu nahm sie als Erzählerin Stellung.
Bis 1955 – damals musste sie aufgrund einer plötzlichen schweren Erkrankung im Notarztwagen von Wiepersdorf nach Berlin gefahren werden – hielt Seghers sich häufig im Niederen Fläming auf. Sie traf sich mit alten Freunden wie Nico Rost, den sie noch aus dem Berlin der Weimarer Republik kannte und der mehrere ihrer Bücher ins Holländische übersetzt hatte. Nach Wiepersdorf konnte sie auch ihre Kinder aus Frankreich einladen. Mehr als Worte sagt ein Foto, was ihr Wiepersdorf bedeutete: Es zeigt sie auf der Freitreppe, mit schwingendem Rock und fröhlich lachend. In ihren Briefen schrieb Seghers immer vom „Schloss der Bettina Brentano“. Für sie blieb Bettine die Kaufmannstochter aus Frankfurt am Main, zu der die gebürtige Mainzerin wohl eine mehr als nur geografisch bedingte Nähe empfand.
Die Jahre nach ihrer Rückkehr waren von einer enormen Ruhelosigkeit und wohl auch Einsamkeit bestimmt. Seghers war viel auf Reisen – zu den Tagungen des Weltfriedensrates in verschiedenen europäischen Städten, wo sie auch Gefährten aus der Exilzeit traf, nach Paris zu den Kindern, in die Sowjetunion zu Freunden, nach Westdeutschland und durch die SBZ/DDR. Und immer häufiger wurde sie für längere Zeit krank.
In der Weimarer Republik, in Frankreich und Mexiko hatte Seghers unter demokratischen Regierungen gelebt, die Herrschaft der Nazis hatte sie nur kurz, die der Sowjets nie selbst erfahren. Die antisemitischen stalinistischen Säuberungen, die in den Fünfzigerjahren auch die DDR erfassten, brachten Seghers und ihre Gefährten, die aus westlichen Exilländern zurückgekehrt waren, in Lebensgefahr. Seghers, damals die einzige literarische Größe von internationalem Rang in der DDR (neben Brecht, der schon 1956 starb), überstand diese Zeit. Sie beugte sich dem Druck, endgültig in den Osten überzusiedeln, und gab schließlich auch ihre mexikanische Staatsbürgerschaft auf, um weiterhin zu den Kindern nach Paris und zu den Tagungen des Weltfriedensrates reisen zu können. In Adlershof bezog sie eine Mietwohnung, seit 1955 wohnte sie zusammen mit ihrem Mann dort in der Volkswohlstraße, der heutigen Anna-Seghers-Straße. Ihre Wohnung ist bis heute erhalten und kann besichtigt werden.
Dr. Sonja Hilzinger, Literaturwissenschaftlerin, lebt in Berlin. Veröffentlichungen u. a. „Herzhaft in die Dornen der Zeit greifen ...“ Bettine von Arnim in Berlin (2020), Christa und Gerhard Wolf: Gemeinsam gelebte Zeit (2014), Elisabeth Langgässer (2009), Christa Wolf (2007), „Das Leben fängt heute an.“ Inge Müller (2005), Anna Seghers: „Das siebte Kreuz“ (2004), Anna Seghers (2000), Werkausgaben von Christa Wolf und Inge Müller, zuletzt Christa Wolf: Essays und Reden (2021).