Kosmos Wiepersdorf

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Station 10: Parkausgang
© Dirk Bleicker

Station 10
Parkausgang

Zwischen Linientreue und Dissidenz: Wiepersdorf und die DDR

„Künstlerheim“, „Dichterheim“, „Arbeitsstätte für Schriftsteller“, „Erholungsstätte der Intelligenz“ – das sind nur einige der Bezeichnungen, mit denen Schloss Wiepersdorf sich seit 1946 schmücken konnte. Dazu kamen „Arbeits- und Erholungsstätte für Kultur- und andere Geistesschaffende“, „Bettina von Arnim-Heim“ sowie schließlich „Arbeits- und Erholungsstätte für Schriftsteller und Künstler – Bettina von Arnim“.

Vermutlich wäre Achim von Arnim verblüfft, wenn er seinen Wirtschaftshof heute sehen könnte. Das Gebäude nämlich ließ er erbauen, um mit der Landwirtschaft ernst zu machen. Wo früher Kühe, Pferde und Schweine standen, gibt es heute mehr als ein Dutzend Zimmer für Stipendiatinnen und Stipendiaten aus aller Welt. Außerdem stehen im Wirtschaftshof zwei Tagungsräume, ein Atelier und eine Bibliothek zur Verfügung. Diese Bibliothek beherbergt neben DDR- und internationaler Literatur auch eine ansehnliche Sammlung zur Romantik und natürlich mehrere Bände der Arnims. Was aber ihr besonderes Profil ausmacht, sind die Bücher der Schriftstellerinnen und Schriftsteller, die Kataloge der Künstlerinnen und Künstler sowie die Tonträger der Komponistinnen und Komponisten, die in Wiepersdorf gearbeitet haben.

Seit seiner Gründung als Arbeitsstätte für Schriftstellerinnen und Schriftsteller im Jahr 1946 war Wiepersdorf immer auch Politikum. Ob in Trägerschaft der Deutschen Dichterstiftung, des Schriftstellerverbandes oder des Ministeriums für Kultur oder des Kulturfonds der DDR – der Ruf eines Paradieses für Nomenklatura-Kader, also linientreue DDR-Schriftsteller, hat das Künstlerhaus begleitet. Das hat insofern eine gewisse Richtigkeit, als man ohne die Einwilligung des Schriftstellerverbandes – oder, da im letzten DDR-Jahrzehnt auch Vertreter anderer Kunstsparten hier arbeiteten, die Einwilligung von deren Künstlerverbänden – in Wiepersdorf nicht zu Gast sein konnte. Anna Seghers, für die in den 1950er Jahren immer ein Zimmer bereitstand, war eben nicht nur eine große Autorin, sondern über zweieinhalb Jahrzehnte auch Präsidentin des Schriftstellerverbandes der DDR. Doch das Spektrum der Wiepersdorfer Gäste war weit und vielgestaltig: Es reichte von prominenten Kulturfunktionären über weniger bekannte Autorinnen und Autoren, die sich weder opportunistisch anschmiegten, noch oppositionell agierten, bis zu randständigen oder ausgesprochen kritischen Schriftstellern wie Thomas Rosenlöcher oder Volker Braun. Die große Lyrikerin Sarah Kirsch reiste 1977, nach der spektakulären Ausbürgerung Wolf Biermanns und kurz nach einem Wiepersdorf-Aufenthalt, in die Bundesrepublik aus. Wiepersdorf konnte Arbeits- und Rückzugsort sein – ein Refugium, in das man sich aus dem grellen Licht der Berliner Öffentlichkeit heraus in den vermeintlichen politischen Schatten des Niederen Flämings zurückziehen konnte. Vermeintlich: Denn es lag in der Natur des Staates DDR, dass er sich auch und gerade um jene kümmerte, die sich um ihn nicht kümmern wollten.

Wie schwer die Unterscheidung zwischen „Linientreue“ und „Dissidenz“ sein kann, zeigt die Wiepersdorfer DDR-Geschichte. Zum einen, weil zwischen den Polen „Linientreue“ und „Dissidenz“ stets eine weite Grauzone liegt. Zum anderen, weil die Kulturpolitik der DDR – zumal in den Willkürakten der frühen Jahre – Mitstreiter und Sympathisanten aufgrund ihrer jüdischen Herkünfte oder Exilorten in westlichen Ländern über Nacht zu Spionen, Saboteuren oder Feinden erklären konnte. Später, ab den 1970er Jahren, schlug „Linientreue“ aus Enttäuschung über die in der DDR verratene sozialistische Utopie oft in „Dissidenz“ oder zumindest profunde politische Skepsis um. Diejenigen, die nach Wiepersdorf kamen, gehörten keineswegs ausnahmslos zum Establishment. Doch ebenso wenig kamen alle etablierten Künstlerinnen und Künstler der DDR hierher. Erik Neutsch etwa, ein in DDR-Schulen viel gelesener Autor und Verfasser der Romanvorlage des berühmten Films „Spur der Steine“ mit Manfred Krug, fühlte sich in der stilvollen Umgebung mit ihrer hochkulturellen Tradition unwohl. Es gab also vielfältige politische und kulturelle Fronten, die sich in Wiepersdorf überlagern konnten. Vor diesem Hintergrund ist verständlich, dass es zu Beginn der 1990er Jahre, inmitten der politischen und sozialen Verwerfungen im Zuge der Wiedervereinigung, viele Auseinandersetzungen über die Deutungshoheit von Schloss Wiepersdorf und seine Geschichte gab. Die Grauzonen auszuleuchten, Täter- und Opferschaft differenziert zu benennen, ist ein Privileg der heutigen Sicht.

Nachdem die Stiftung Kulturfonds aus dem Kulturfonds der DDR hervorgegangen war und die Trägerschaft übernommen hatte, öffnete Schloss Wiepersdorf 1992 als Künstlerhaus wieder seine Pforten – nunmehr für Schriftstellerinnen und Schriftsteller, Künstlerinnen und Künstler, Komponistinnen und Komponisten sowie Geisteswissenschaftlerinnen und Geisteswissenschaftler, die Aufenthaltsstipendien von verschiedenen Stipendiengebern erhielten. In diesem Zusammenhang muss der Name Clara von Arnims genannt werden. Die Ehefrau des letzten privaten Eigentümers war 1991 zunächst Begründerin des „Freundeskreises Schloss Wiepersdorf“, bevor sie 1998 auf Rückübertragungsansprüche verzichtete und damit der heutigen Nutzung des Schlosses endgültig den Weg bereitete. Bis es zur zwischenzeitlichen Schließung wegen des Auseinanderbrechens der Stiftung Kulturfonds im Jahr 2004 kam, waren wichtige Protagonisten der deutschsprachigen Literatur Wiepersdorfer Stipendiatinnen und Stipendiaten: Dazu gehören Marcel Beyer, Volker Braun, Adolf Endler, Elke Erb, Jenny Erpenbeck, Wilhelm Genazino, Katharina Hacker, Thomas Hettche, Wolfgang Hilbig, Felicitas Hoppe, Katja Lange-Müller, Thomas Lehr, Martin Mosebach, Ulrich Peltzer, Kathrin Röggla, Ralf Rothmann, Kathrin Schmidt, Julia Schoch. Doch nicht nur die deutschsprachige Literatur war hier vertreten: Inger Christensen aus Dänemark, Laszlo Darvasi aus Ungarn, Dzévad Karahasan aus Bosnien Herzegowina oder die Nobelpreisträgerinnen Olga Tokarczuk und Swetlana Alexijewitsch zählen zu den bekanntesten internationalen Gästen.

Mit der Übernahme des Schlosses durch die Kulturstiftung Schloss Wiepersdorf, gegründet vom Land Brandenburg im Jahr 2019, ist ein neues Profil verbunden: Wiepersdorf wird sichtbar als Ort, an dem Künstlerinnen und Künstler sowie Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler verschiedener Disziplinen und Herkünfte in einem geschützten Raum allein oder in Kooperationen kreativer Arbeit nachgehen können. Damit ist Schloss Wiepersdorf ein Schauplatz des künstlerischen Schaffens und des Gesprächs über das kulturelle Selbstverständnis unserer Gesellschaft mit einer globalen Perspektive.

Herzlichen Dank für Ihren Besuch.

Redaktion der Stationstexte: Steffen Richter und Nathalie Mälzer