Ergänzung
Felicitas Hoppe: Schlossspringer
Klar, dass jetzt, nach fast dreißig Jahren, das Ganze nichts als eine vage Erinnerung ist; aber da es jede Menge Zeitzeugen gibt, muss es wohl stimmen: Also, ja: Ich bin damals unweit von Wiepersdorf tatsächlich aus einem Flugzeug gesprungen, oder, etwas genauer gesagt: Ich bin aus knapp tausend Metern Höhe aus einer klapprigen kleinen russischen Militärmaschine gefallen, an einem sich automatisch öffnenden Fallschirm hängend. Übrigens war weniger der Sprung das Problem als das Falten des riesigen Fallschirms davor; eigentlich genau wie beim Schreiben: Je schlechter gefaltet, umso schlechter fällt man.
So jedenfalls hat es mir damals kurz vor dem Countdown der ziemlich strenge Trainer erklärt. Da war es allerdings schon zu spät. Übrigens: Die Dicken springen zuerst, weil sie schneller fallen, ich war die vorletzte. Zu meiner eigenen Überraschung bin ich auf beiden Beinen gelandet. Auf einer Weide. Neben mir stand ein ratloses Pferd.
Dem zweifelhaften Abenteuer auf dem ehemaligen Militärflughafen waren ausgedehnte Fahrradtouren vorausgegangen, auf denen ich den romantischen Bratäpfeln des Schlosses stundenweise zu entkommen versuchte. Zusammen mit meinem Kollegen Bernd Böhmel (der kam aus Dresden und hatte bei Heiner Müller Drama studiert) entdeckte ich dabei den kleinen Flugplatz; ein schöner Kontrast zu unserer Geisteswelt: Man saß mit Kaffee in kleinen Pappbechern im Wind und schaute in den hohen Himmel hinauf, aus dem andauernd beherzte Sportspringer fielen.
Das, sagte ich plötzlich, das kann ich auch. Und Bernd sagte: Das machst du nie. Schriftstellerinnen sind keine Fallschirmspringer. Womit er Recht hatte. Aber ich sagte: Ich mache es doch. Vermutlich war es der pure Trotz, der Widerstand gegen die Langeweile, die schlichte Behauptung der Existenz einer Gegenwelt, als wir kurz darauf mit Handschlag eine Wette abschlossen. Tags drauf buchten wir einen Einführungskurs inklusive zehn Sprünge, den sich eigentlich keiner von uns beiden leisten konnte; aber der sportliche Eifer bei der Pilzsuche hatte sich inzwischen erschöpft und jede neue Herausforderung war mehr als willkommen.
Am Tag des legendären ERSTSPRUNGS pilgerten sämtliche Schlossbewohner zum Flugplatz hinaus und schlossen nun ihrerseits Wetten ab. Alle wollten Zeugen unserer so albernen wie gefährlichen Mutprobe sein. Vielleicht hat die eine oder der andere auch noch versucht, uns von dem gewagten Vorhaben abzuhalten. Doch da war's schon zu spät. Genau wie beim Schreiben.
Und genau wie beim Schreiben war vor dem Sprung allem voran Geduld gefragt; denn der Wind stand nicht gut, für Erstspringer viel zu stark, sagte der Trainer. Aber irgendwann legte sich schließlich der Wind, und wir stiegen ein. Flogen nach oben. Sangen irgendein Lied über Wiepersdorf. Schauten durchs Fenster, bekamen Angst und hörten auf mit dem Singen. Dann bin ich gesprungen, in die weiße Luft, besser gesagt, ich bin gefallen, habe Richtung Wiepersdorf im Fallen bis drei gezählt – und wie im Märchen hat sich der Fallschirm geöffnet.
Zwei Minuten später bin ich auf beiden Beinen gelandet. Neben einem gleichgültigen Pferd, das nicht einmal den Kopf hob. Bernd Böhmel dagegen hat sich den Knöchel verstaucht; und kurz darauf wurde das Wetter so schlecht, dass auch ich den Rest der gebuchten Sprünge erleichtert verfallen ließ und im strömenden Regen beschloss, mich im Märchenschloss Wiepersdorf bis zum Jahresende wieder ganz den Bratäpfeln, den Pilzen und meinem Schreiben zu widmen.
Felicitas Hoppe, geboren 1960 in Hameln, lebt als Schriftstellerin in Berlin und im Schweizer Wallis und ist schreibend und vortragend weltweit unterwegs. Sie veröffentlicht Erzählungen, Romane, Kinderbücher und Essays; zuletzt erschien bei S. Fischer der Roman Die Nibelungen – ein deutscher Stummfilm. Sie ist Trägerin des Georg-Büchner-Preises 2012 und erste Preisträgerin des Großen Preises des Deutschen Literaturfonds (2020).